Es ist mir eine Freude und eine Ehre heute vor der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen zu sprechen. Vielen Dank für die Einladung!
Im Gegensatz zu meiner Vorrednerin und meinen Vorrednern habe ich keine besonderen fachlichen oder akademischen Kompetenzen zum Thema «100 Jahre Proporzwahlrecht». Dafür habe ich als Vertreter des Majorzkantons Graubünden praktische Erfahrung in der politischen Auseinandersetzung um ein gerechtes Wahlsystem.
Darum möchte ich ein paar Gedanken zur Idee gerechter Wahlen im 21. Jahrhundert mit Ihnen teilen. Ausgehend von meiner Grundhaltung als Proporz-Befürworter und Anhänger einer Ausweitung des Wahlrechts auf möglichst viele Menschen. Im Sinne der Transparenz muss ich betonen, dass ich damit zur politischen Minderheit hier in Graubünden gehöre. Im Gegensatz zur Bündner Regierung, der Mehrheit des Grossen Rates und auch der Mehrheit der abstimmenden Bevölkerung halte ich unser kantonales Wahlsystem für überholt und ungerecht. Wenn Sie also Argumente für den Bündner Status Quo hören möchten, müssen Sie jemand anderes fragen.
Wäre ich heute nicht hier, würde ich als Sozialdemokrat und linker Historiker in Olten das Jubiläum «100 Jahre Generalstreik» feiern. Dieses Schlüsselereignis der Schweizer Geschichte im 20. Jahrhundert war ein Aufbäumen für mehr Gerechtigkeit in unserem Land. Und es war ein zentraler Impuls für die Integration der Arbeiterschaft, der politischen Linken und der Frauen in die Institutionen der modernen Schweiz. Neben den sozialen Forderungen wie dem Achtstunden(arbeits-)tag, der AHV oder der IV formulierten die Streikenden auch zwei genuin politische Forderungen: Das Frauenstimmrecht und die sofortige Wahl des Nationalrats im Proporz. Damit machte das Streikkomitee deutlich: Die Schweizer Demokratie wäre nur vollendet, wenn auch die Frauen mitbestimmen könnten und bei der Wahl des Nationalrats alle Stimmen gleich zählen würden. Die Streikenden forderten völlig zu Recht wirklich «allgemeine» und wirklich «gleiche» Wahlen in der Schweiz.
Wer diese Woche die Midterm-Elections in den USA verfolgt hat, konnte einmal mehr feststellen, dass auch reife Demokratien wie die Vereinigten Staaten die Grundsätze «allgemeiner» und «gleicher» Wahlen überhaupt nicht erfüllen. Ein paar aufrüttelnde Beispiele:
- In diversen Bundesstaaten werden Vorbestrafte – auch Personen mit Bagatell-Vorstrafen – nicht zu den Wahlen zugelassen;
- einige Bundesstaaten erschweren es weiten Teilen der Bevölkerung bei den Wahlen teilzunehmen, indem administrative Hürden wie relativ komplexe Wahlregistrierungen verlangt werden;
- zum Teil werden sogar die Wahllokale so platziert, dass Bürgerinnen und Bürger ärmeren Gegenden weitere und beschwerlichere Wege fahren müssen, um an den Wahlen teilzunehmen.
Diese Beispiele zeigen, dass die «Allgemeinheit» von Wahlen in einigen Bundesstaaten nicht wirklich gegeben ist. Aber auch die «Gleichheit» der amerikanischen Wahlen ist stark in Frage gestellt:
- Obwohl die Demokraten zum Beispiel im Bundesstaat North Carolina über 50% der Stimmen erhalten haben, stellen sie nur 3 von 13 Abgeordneten dieses Staates und sind somit nur zu 23% repräsentiert;
- die machtpolitisch gestaltete Wahlkreiseinteilung in vielen Staaten, das sogenannte Gerrymandering, wurde bei der letzten Wahlkreiseinteilung 2010 dazu benutzt, die Einteilung so vorzunehmen, dass die Demokraten selbst bei einer Mehrheit der Stimmen, nicht zu einer Mehrheit der Sitze im Repräsentantenhaus kommen. Dieses Jahr gelang dies, da der Wahlsieg derart deutlich und breit abgestützt war, dass auch die vorteilhafte Wahlkreiseinteilung den Republikaner nicht genug «Schutz» bot. Wir erinnern uns aber: Auch 2016 gewannen die Demokraten insgesamt mehr Stimmen als die Republikaner und trotzdem verloren sie das «House» genauso wie Hillary Clinton die Präsidentschaft verlor, obwohl sie insgesamt mehr Stimmen holte als Donald Trump.
Wir sind uns wohl (fast) alle einig: Die Wahlen in den USA sind nicht gerecht. Weil sie faktisch nicht für alle offen und somit nicht wirklich «allgemein» sind. Und weil nicht alle Bürgerinnen und Bürger die gleiche Stimmkraft haben, also bei der Stimmabgabe nicht wirklich «gleich» sind.
Wie sieht es bei uns aus mit den Kriterien «Allgemeinheit» und «Gleichheit» von Wahlen? Sind unsere Wahlen im Gegensatz zu denjenigen in den USA gerecht?
Die Proporzwahlen für den Nationalrat sind sicher eine gute Annäherung an die Idee gerechter Wahlen – zumindest was ihre «Gleichheit» angeht. Denn unsere Proporzwahlen kommen dem verfassungsmässigen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit recht nahe. Dieser Grundsatz kennt gemäss Lehre und Rechtssprechung drei Prinzipien:
- Die Zählwertgleichheit, die besagt, dass alle Stimmen gleich gezählt werden müssen (one person, one vote);
- die Stimmkraftgleichheit, die verlangt, dass ein möglichst gleichmässiges Verhältnis von Sitzen und Einwohnerschaft in möglichst allen Wahlkreisen herrscht;
- die Erfolgswertgleichheit, die fordert, dass möglichst alle Stimmen in gleicher Weise zum Wahlergebnis beitragen müssen.
Leider gelten diese Prinzipien nicht in allen Kantonen. In Graubünden haben wir für die kantonalen Parlamentswahlen bekanntlich keinen Proporz. Wir haben ein Majorzwahlsystem mit 39 sehr unterschiedlichen Wahlkreisen. Neben einer Vielzahl von Einerwahlkreisen sehr unterschiedlicher Grösse – der Wahlkreis Bergell ist etwa 10 Mal grösser als der Wahlkreis Avers, die beide je einen Sitz im Grossen Rat haben! – kennen wir auch grosse Kreise wie Chur mit 20 Sitzen oder den Kreis Fünf Dörfer mit 12 Sitzen.
Diese Kombination – sehr unterschiedliche Wahlkreisgrösse und Majorzsystem – führt zu extremen Verzerrungen der Stimmkraftgleichheit und verunmöglicht die Erfolgswertgleichheit gänzlich. Eine Wählerin im Kreis Avers hat 10 Mal mehr Stimmkraft als eine Wählerin im Bergell. Und obwohl die SVP bei Nationalratswahlen im Kanton die mit Abstand stärkste Partei ist, hat sie im Grossen Rat nur 9 von 120 Abgeordneten. Die ungleiche Stimmkraft und die Verzerrung der Repräsentanz bei den Bündner Parlamentswahlen ist schlicht und einfach ungerecht!
Nicht nur in Graubünden, auch auf nationaler Ebene gibt es Gerechtigkeitsdefizite bei Wahlen. Der Proporz ermöglicht zwar mehr «Gleichheit» bei der Stimmkraft. Aber er garantiert nicht wirklich die «Allgemeinheit» der Wahlen. Denn er sagt nichts zum Wahlkörper.
1919 fanden die ersten Proporzwahlen für den Nationalrat statt. Sie waren sicher gerechter als die letzten Majorzwahlen im Jahr 1917. Aber waren sie gerecht? Nein. Denn die Frauen, rund 50% der erwachsenen Bevölkerung, waren davon ausgeschlossen. Dieses enorme Gerechtigkeitsdefizit wurde in unserem Land erst 1971 beseitigt.
Heute kennen wir ein ähnliches Gerechtigkeitsdefizit. Rund ein Viertel unserer erwachsenen Bevölkerung ist von den Wahlen (und übrigens auch von den Abstimmungen) ausgeschlossen. Ich spreche natürlich von der ständigen ausländischen Bevölkerung. Diese Menschen leben dauerhaft hier, zahlen hier Steuern, sind den hiesigen Gesetzen und Pflichten unterworfen, können hier aber nicht mitbestimmen und sind auch nicht in den Parlamenten repräsentiert. Das ist aus demokratischer Sicht eigentlich nicht haltbar. Wollen wir den Anspruch auf ein «gleiches» und «allgemeines» Wahlrecht für das 21. Jahrhundert aufrechterhalten, werden wir nicht darum herumkommen, dieses Defizit zu beseitigen. Wie wir das tun – ob mit einer grossen Einbürgerungsoffensive oder mit einem System des Ausländerinnen- und Ausländerstimmrechts sei hier nicht vorweggenommen. Das Demokratie- und Gerechtigkeitsproblem muss aber angesprochen und dessen Lösung angepackt werden.
In diesem Bereich möchte ich den Kanton Graubünden übrigens loben. Ich bin stolz darauf, dass unsere Kantonsverfassung den Gemeinden die Möglichkeit gibt, zumindest auf Gemeindeebene das Ausländerinnenstimm- und Wahlrecht einzuführen. Rund ein Fünftel der Bündner Gemeinden hat dies getan. Damit ist unser Kanton zumindest in diesem wichtigen Bereich fortschrittlicher als die grosse Mehrheit der Deutschschweiz!
Insgesamt sind wir als Land in diesem Bereich aber noch ziemlich im Rückstand. Dabei müssen wir bedenken: Die amerikanische als erste bürgerliche Revolution wurde mit dem Slogan «no taxation without representation» lanciert. Die Kraft dieser Botschaft ist bis heute ungebrochen, wenn es darum geht, gleiche politische Rechte zu erkämpfen und die Demokratie auszuweiten. Keine (Steuer-)Pflichten ohne (Mitbestimmungs-)Rechte!
Vor hundert Jahren streikten die Menschen in der Schweiz für das Frauenstimmrecht und den Proporz. Heute wissen wir: Beide Forderungen waren richtig. Sie waren die Grundlage für die politische Gleichberechtigung aller Schweizerinnen und Schweizer und für die Integration der Frauen und der Arbeiterschaft in unseren Staat. Dank dem Generalstreik und seinen Forderungen ist unsere Demokratie gewachsen.
Heute müssen wir uns für die politische Gleichberechtigung aller ständigen Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz und für die Integration der eingewanderten Bevölkerung in unseren Staat stark machen. Unsere Demokratie kann und soll weiter wachsen!
Friedrich Dürrenmatt bringt in seinen «Physikern» die Idee der Demokratie auf den Punkt: «Was alle angeht, können nur alle lösen.» Das stimmt und passt perfekt zum demokratischen und konkordanten Selbstverständnis der Schweiz.
Wenn wir diese Idee von Demokratie ernst nehmen, ist die Auseinandersetzung für gerechte Wahlen noch lange nicht zu Ende. Denn wir können nicht akzeptieren, dass rund ein Viertel unserer ständigen Bevölkerung nicht dabei ist, wenn es darum geht, das zu lösen, was wirklich alle angeht!
Dieses Referat wurde im Rahmen einer Podiumsdiskussion an der Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen vom 10. November 2018 in Chur gehalten.